Muslimfeindlichkeit
09-09-2024
Debatte über „Clankriminalität“: Reale Probleme und toxische Debatten
In welchem Zusammenhang steht die Debatte um „Clankriminalität“ mit Muslimfeindlichkeit? In genau dem Zusammenhang, der ohne seriöse Belege die Zugehörigkeit zum Islam als (Mit-)Ursache der Beteiligung an besonderen Formen koordinierter Kriminalität konstruiert.
Worum geht es? Gruppenbasierte Kriminalität bei Menschen unterschiedlichster sozialer, ethnischer oder religiöser Hintergründe ist alt. Für Gesellschaft und Rechtsstaat ist sie wegen der Potenzierung von Handlungsmöglichkeiten und krimineller Energie besonders gefährlich und muss deshalb mit allen rechtlich zulässigen Mitteln bekämpft werden. Das gilt auch für koordinierte kriminelle Aktivitäten von Angehörigen sogenannter arabischer, kurdischer, libanesischer etc. „Clans“, die seit den 2010er-Jahren ein hohes Maß an medialer Aufmerksamkeit erfahren haben (erstmals Wagner 2011) und seitdem auch in den Fokus polizeilicher Ermittlungen gelangt sind. Typische Handlungsfelder sind z. B. Rauschgift- und Eigentumsdelikte, Wirtschafts- und Schleusungskriminalität (vgl. BKA 2021: 24–28) sowie Rohheitsdelikte und Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. Polizei NRW/LKA 2022: 14).
Rechtsstaatlich besonders problematisch sind dichte Loyalitätsstrukturen unter den Beteiligten, die wegen der Bereitschaft zur Gewaltanwendung eine hohe Durchschlagskraft erzeugen und staatliche Gegenmaßnahmen besonders erschweren. Im Gegensatz zu älteren gruppenbasierten Formen Organisierter Kriminalität (z. B. italienische oder russische „Mafia“), die in aller Regel großen Wert auf unauffälliges Wirken legen, werden hier von vielen Beteiligten die Rechte anderer demonstrativ mit Füßen getreten, der Rechtsstaat und seine Vertreter*innen werden offen angegriffen, verhöhnt und bedroht (vgl. Polizei NRW/LKA 2022: 17–20). Damit wird offensiv die Machtfrage aufgeworfen und das staatliche Gewaltmonopol infrage gestellt. Deutliche Reaktionen des Rechtsstaats sind deshalb unerlässlich. Sie müssen allerdings rechtsstaatlichen Maßstäben genügen. Hier beginnen die Probleme.
Das erste grundlegende Problem mit intersektionalen (ethnischen und religiösen) Diskriminierungswirkungen im Alltag besteht in der pauschalen Verdächtigung bestimmter ethnischer Gruppen mit islamischer bzw. als islamisch wahrgenommener Religionszugehörigkeit (Großfamilien, „Clans“) ohne hinreichend belastbare Fakten. In der medialen Berichterstattung wird der sehr unpräzise Begriff der „Clankriminalität“ häufig auf ganze bzw. mehrere Großfamilien gleichen Nachnamens bezogen (z. B. in einem wissenschaftsorientierten Artikel über die Faszination des Goldes und einen spektakulären Diebstahl durch Mitglieder „des berüchtigten [XXX]-Clans“, Willmann 2022: 34), ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich persönliche Verbindungen bestehen, und ohne Hinweis darauf, dass nur ein insgesamt geringer Teil der Namensträger*innen tatsächlich kriminell aktiv ist. Dabei werden in der Tat kriminell hochaktive Gruppen von Mitgliedern dieser Familien ohne Beleg als repräsentativ für die gesamte Großfamilie dargestellt. Diskriminierende Verzerrungen ergeben sich zudem, wenn in Polizeistatistiken alle von bestimmten Nachnamensträger*innen begangenen Delikte ungeachtet ihrer Qualität (z. B. einfache Straßenverkehrsdelikte) aufgeführt werden, was überhöhte Bedrohungsszenarien auslöst (vgl. Jaraba 2021: 9–10; Polizei NRW/LKA 2022: 942).
Von besonderer Bedeutung sind öffentliche Darstellungen der Sachlage durch Institutionen des Rechtsstaats. Positiv zu bewerten ist die Suche nach begrifflicher Präzision, wenn auf einfache, aber verfälschende Schlagworte („Clankriminalität“) verzichtet wird, z. B. die Bezeichnung „kriminelle Mitglieder innerhalb von [XXX] Großfamilien“ (Polizei NRW/LKA 2022: 6). Exemplarisch für das Gegenteil solcher Sorgfalt stehen die bewussten Pauschalisierungen in einer für den Essener/Mülheimer Polizeidienst bestimmten, auch polizeiintern umstrittenen Broschüre. Dort wird eine angeblich „notwendige Kollektivbetrachtung“ angestellt, weil grundlegende relevante Denkmuster auch bei nicht-kriminellen Familienmitgliedern verankert seien und auch diese zu kriminellen Aktivitäten anderer schwiegen (Dienstbühl 2019: 4). Unabhängig von den zweifelhaften faktischen Grundlagen dieser Behauptungen (vgl. Jaraba 2021: 6–8) tritt hier eine Form der geistigen Sippenhaft jenseits aller rechtsstaatlicher Prinzipien zutage. Ein letztlich selbst rechtsstaatsgefährdendes Bedrohungsszenario wird in der Zusammenfassung mit der pauschalen Aussage aufgebaut, es sei ein zentrales Verständnis „der Clans […], dass sie sich stets im Krieg befinden“, was über ihren „Eroberungswillen“ (Dienstbühl 2019: 18) dokumentiert werde.
Das zweite grundlegende Problem besteht in der nicht seriös belegten Behauptung, die Religion der beteiligten Straftäter*innen – hier der Islam – sei eine wichtige oder sogar die wichtigste Ursache für ihre Taten. Wenn dem Christentum zugehörige Mafiabosse sich darum streiten, wer bei der Fronleichnamsprozession den Baldachin über der Marienstatue tragen darf, um später die nächsten Verbrechen zu planen, werden ihre kriminellen Aktivitäten gemeinhin nicht dem christlichen Glauben zugeschrieben. Das muss aber dann auch für die Taten eines muslimischen Schwerkriminellen gelten, wenn er sich zur Pilgerfahrt nach Mekka begibt oder in einer Moschee betet. Muslimfeindlich wirken also auch Fehlzuschreibungen existierender Probleme, deren Hauptursachen in sozio-ökonomischen (z. B. Exklusionserfahrungen) oder kulturellen Faktoren liegen, zur Religionszugehörigkeit (vgl. Rohe/Jaraba 2015; Jaraba 2021; Elliesie/Rigoni 2022). Als muslimfeindlich ist zudem eine Sensationsberichterstattung zu bewerten, die tatsächlich existierende Probleme wie Tötungsdelikte mit sogenannter „Clankriminalität“ in Verbindung bringt und mögliche sozio-ökonomische Hintergründe ohne inneren Zusammenhang mit islambezogenen Themen vermischt, wie Schulessen-Protest gegen Schweinefleisch oder Kopftuchdebatten (Dinger 2022: 13–16).
Besonders gefährlich werden solche Zuschreibungen, wenn sie sich an Repräsentant*innen staatlicher Institutionen richten, die auf dieser Grundlage in Gefahr geraten, Fehlentscheidungen zu treffen. Eine weitere Gefahr entsteht durch angebliche Expertisen von Personen, die nicht über das erforderliche islamwissenschaftliche Expert*innenwissen verfügen. Exemplarisch hierfür stehen Zuschreibungen von kriminellen Aktivitäten von Großfamilienmitgliedern zum Islam, extreme Pauschalisierungen der ‚Lebenswelten‘ und inhaltlich nicht mehr nachvollziehbare Aussagen zur Religion des Islam in der bereits erwähnten Broschüre für den Essener/Mülheimer Polizeidienst (vgl. Dienstbühl 2019: 5–8).
Was ist die Lösung? Ein rechtsstaatskonformer, problemorientierter Ansatz bei der Kriminalitätsbekämpfung und -prävention (vgl. Rohe 2019: 59–71; Elliesie/Rigoni 2022: 25–32; Ministerium der Justiz NRW 2022). Bestehende Probleme müssen offen angesprochen und effizient angegangen werden. Nur eine faktenorientierte Problem analyse und Ursachenforschung aber kann Kriminalität wirksam bekämpfen, ohne Kollateralschäden zu verursachen. Pauschalisierungen und Fehlzuschreibungen diskriminieren Menschen – z. B. dann, wenn eine zugesagte Ausbildungsstelle nur wegen eines „verdächtigen“ Nachnamens doch nicht mehr offensteht, oder wenn ein junger Mensch resignierend zu dem Schluss kommt, nur mit einer Nachnamensänderung eine Chance auf dem Ausbildungsmarkt zu erhalten. Der Rechtsstaat muss alle schützen: Die Opfer der als „Clankriminalität“ bezeichneten Taten ebenso wie die Opfer einer diskriminierenden Handhabung dieses Begriffs.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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